Ein allgemeines Problem der Archäologie beginnt mit der Überlieferung
vergangener Sachkultur. Von der Gesamtheit aller Objekte, die während
vergangener Zeiten zum Alltag gehörten, haben nur einige wenige die
Jahrhunderte überdauert. Dazu kommt das Problem, das organische Materialien wie
Holz oder Textilien deutlich unterrepräsentiert sind. Textilien noch weit mehr
als andere organische Objekte. Komplett erhaltene Textilien aus dem
wikingerzeitlichen Skandinavien gibt es mit Ausnahme des Viborg-Hemdes gar
nicht. Selbst die relativ zahlreichen Textilien aus Haithabu repräsentieren
genau genommen nicht mehr als eine Handvoll verschiedener Kleidungsstücke. Außerdem
sind diese nur in Fragmenten erhalten.
Um zu anwendbaren (sprich nähbaren) Aussagen über die
Kleidung der Wikingerzeit zu kommen, ist häufig viel Interpretation notwendig. Die
Vielzahl an Fragmenten ermöglicht es allerdings durch genaue Beobachtungen
gewisse Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die man für die Rekonstruktion eines
Kleidungsstückes heranziehen kann, das nicht komplett erhalten ist. So gibt es
aus Haithabu beispielsweise nur einen komplett erhaltenen Ärmel, der aus zwei
Stoffstücken zusammengesetzt ist. Fragmente von zwei weiteren Ärmeln deuten
allerdings darauf hin, dass diese ebenfalls so zusammengesetzt waren.
Über diese Erkenntnisse darf man jedoch nie vergessen, dass
die Rekonstruktionen nur auf Grundlage des wenigen Materials beruhen, das uns überliefert
ist. Es ist somit mehr als wahrscheinlich, dass auch andere Schnittmuster
genutzt wurden, als jene die wir kennen. Außerdem ist auch der Anteil der
Interpretation nicht zu unterschätzen, so dass die vorgestellten Schnittmuster
zwar immer auf der Grundlage von Fakten beruhen, jedoch immer nur als Vorschläge
für das Aussehen der damaligen Kleidung zu verstehen sind.
Die größte Sicherheit für eine „authentische“ Bekleidung
bieten zwar die verschiedenen Rekonstruktionsvorschläge auf Grundlage der
Originalfunde, doch stellen diese aber eben auch nur Vorschläge dar, für eine
Realität wie sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausgesehen haben kann. Abweichungen
im Detail sind somit auch bei den Vorlagen immer möglich.
Es wird in der Wikingerzeit nicht jeder in Kleidungsstücken
derselben Machart herumgelaufen sein. Es ist entsprechend eine Geschmacksfrage
des einzelnen Darstellers wie exakt er sich an die archäologischen Vorlagen
halten möchte und wo er gewisse Spielräume zulassen möchte. Mit dem Anspruch
einer gewissen historischen Korrektheit sind diesem Spielraum allerdings auch
Grenzen gesetzt. Sicherlich lässt sich durch die Abwesenheit von Funden nicht
das Fehlen von Gegenständen in einer Epoche zwingend nachweisen. Wenn man
allerdings das 10. Jahrhundert in Dänemark beleben möchte, sollte man es doch
vermeiden, beispielsweise Trachtbestandteile aus dem ungarischen Raum mit
aufzunehmen.
Ein weiteres Problem, das hier nur kurz umrissen werden
soll, ist für Handelsorte wie Haithabu, dass diese im Spiegel des übrigen
Fundmaterials eindeutig als „multikulturelle“ Siedlungen anzusprechen sind. Es
ist somit in vielen Fällen bereits fraglich, ob die Textilien aus
entsprechenden Siedlungen nun die Tracht „einheimischer“ Personen repräsentieren
oder vielleicht Fremdgüter darstellen.
Einen solchen Problemfall stellen die Pluderhosen aus
Haithabu dar. Bildliche Darstellungen scheinen nahe zu legen, dass es sich bei
ihnen um ein ostskandinavisches / baltisches Kleidungsstück handelt. Der
einzige als Pluderhose ansprechbare Textilfragment in Skandinavien stammt
allerdings aus Haithabu. Durch metallene Trachtbestandteile weiß man, dass
Personen aus Ostskandinavien und dem östlichen Baltikum in Haithabu anwesend
waren. Es stellt sich somit die Frage, ob diese Hose jemand gehörte der aus
Regionen östlich von Dänemark stammte oder einem „Einheimischen“, der diese
Mode übernommen hat. Auch bei den übrigen Textilien aus dem Hafen können wir
einfach nicht mit Bestimmtheit sagen, woher ihre Träger kamen und ob sie
typisch für Haithabu bzw. Skandinavien waren.
Diese Probleme stellen sich allerdings allgemein und nicht
nur für Textilien.
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